Wie aus Vielfalt Spannung wird
„Die gespaltene Gesellschaft“ steht im Fokus der 21. Ökumenischen Sommerakademie, die heuer mit 300 Teilnehmern ihr 20-jähriges Bestehen feiert. Bericht und Inhalte zu den Referaten des ersten Tages sowie Link zum Nachhören.
Gewalttätige Auseinandersetzungen auf privater und öffentlicher Ebene, verschärfte soziale Spannungen, ethnische und religiöse Konflikte, eine zunehmende Uneinigkeit im „Friedensprojekt“ EU, die unbewältigte Migrationskrise – all dies beunruhigt Menschen und macht Angst. Zeichen von Spaltungen in der Gesellschaft sind in Österreich, europaweit und global festzustellen. Unter dem Titel "Die gespaltene Gesellschaft" greift die 21. Ökumenische Sommerakademie diese Themen auf, analysiert die Ursachen und überlegt, wie die Spannungen und Spaltungen überwunden werden könnten bzw. was der Beitrag der christlichen Kirchen dazu sein kann.
Am ersten Tag referierten nach den Eröffnungsworten von Landeshauptmann Mag. Thomas Stelzer und den Impulsvorträgen von Generalvikar DDr. Severin Lederhilger OPraem und Superintendent Dr. Gerold Lehner Dr. Sighard Neckel, Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Universität Hamburg, und Dr. Paul M. Zulehner, emeritierter Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien.
Etwa 300 Interessierte betrachteten am ersten Tag mit den renommierten ReferentInnen die Ursachen für Spaltungen in der Gesellschaft von heute, ihre Folgen und mögliche Lösungsansätze. Unter den Gästen waren Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und Gesellschaft sowie VertreterInnen der VeranstalterInnen, etwa Landeshauptmann Mag. Thomas Stelzer, Landeshauptmann a. D. Dr. Josef Pühringer, der Zweite Präsident des Oö. Landtags Dipl.-Ing. Dr. Adalbert Cramer, der Bürgermeister von Kremsmünster Gerhard Obernberger, Bischof em. Maximilian Aichern, Generalvikar DDr. Severin Lederhilger OPraem (auch in Vertretung des terminlich verhinderten Diözesanbischofs Dr. Manfred Scheuer), Pastoralamtsdirektorin Mag.a Gabriele Eder-Cakl, der designierte Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich Dr. Michael Chalupka, der Superintendent der Evangelischen Kirche A. B. in Oberösterreich Dr. Gerold Lehner, Superintendentialkurator Johannes Eichinger, die Oberkirchenrätin der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich Mag.a Ingrid Bachler, der Generalvikar der Altkatholischen Kirche Österreichs Mag. Martin Eisenbraun, der Bischof der Serbisch-orthodoxen Kirche Österreich-Schweiz-Italien und Malta Andrej Ćilerdžić (wie Bischof Scheuer Stv. Vorsitzender im Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich), Brigitte Bindreiter und Gerhard Urban von der Gemeinschaft der BuddhistInnen Österreichs, Gastgeber und Hausherr Abt Mag. Ambros Ebhart, die Direktorin der Diakonie Österreich Dr.in Maria Katharina Moser, der Direktor der Caritas OÖ Franz Kehrer, MAS, der Rektor der Katholischen Privat-Universität Univ.-Prof. Dr. Franz Gruber, die Präsidentin der Katholischen Aktion Dipl.-Päd.in Maria Hasibeder, Ökumene-Referentin Mag.a Gudrun Becker, der Landesdirektor des ORF Oberösterreich Mag. Kurt Rammerstorfer, der Chefredakteur im ORF-Landesstudio Oberösterreich Dr. Johannes Jetschgo, der Chefredakteur der KirchenZeitung Diözese Linz Mag. Matthäus Fellinger und der stv. Chefredakteur der Oberösterreichischen Nachrichten Mag. Dietmar Mascher.
Moderiert wird die Veranstaltung von Dr. Helmut Obermayr, Mitbegründer der Ökumenischen Sommerakademie und langjähriger ehemaliger Landesdirektor des ORF-Landesstudios OÖ. Er betonte in seinen einführenden Worten, das gewählte Thema, das vor einem Jahr festgelegt wurde, gewinne Woche für Woche an Aktualität. Obermayr: „Einer überwiegenden Mehrheit der Menschen in Österreich geht es so gut wie noch nie, das gilt auch für die meisten Menschen in Europa. Es herrscht weitgehend Frieden auf unserem Kontinent. Dennoch nehmen Unsicherheit, Angst und Spannungen zu, sodass eine Spaltung der Gesellschaft sowohl in unserem Land als auch europaweit konstatiert wird. Bei der Ökumenischen Sommerakademie werden wir Analysen dieser Entwicklung und theologische Überlegungen zu ihrer Lösung von renommierten ReferentInnen hören und miteinander diskutieren.“
Stelzer: Politisch gestalten heißt, Menschen zusammenführen und so die Gesellschaft weiterbringen
Landeshauptmann Mag. Thomas Stelzer gratulierte den Veranstaltern und Verantwortlichen zu zwei Jahrzehnten Ökumenische Sommerakademie. Dieses Angebot habe sich zu einer „für das Land und die Gestaltung unserer Gesellschaft wichtigen Institution entwickelt, die wir brauchen, um unsere Gesellschaft festigen und weiterbauen zu können“, würdigte Stelzer die Veranstaltung. Die Sommerakademie stehe auch dafür, dass in Oberösterreich manche Fragen früher gestellt würden als anderswo und versucht werde, miteinander Antworten auf wichtige Herausforderungen zu suchen.
Das Thema der heurigen Sommerakademie sei ein höchst aktuelles und spannendes, so der Landeshauptmann. Ein Kennzeichen von Oberösterreich sei neben dem frühen Nach-vorne-Schauen das oberösterreichische Klima: „In wesentlichen Fragen haben wir immer zu einem Ausgleich und zu einer gemeinsamen großen Antwort gefunden, über Interessengruppen hinweg. So ein Miteinander braucht ein ständiges Erarbeiten.“ Wenn man heute politisch gestalten wolle, heiße das nicht nur, vorauszublicken und vorauszugehen, sondern zusammenzuführen: „Menschen und Interessen zusammenbringen und so das Land und die Gesellschaft weiterbringen“, betonte Stelzer. Dafür gebe es kein Patentrezept, aber es gelte zu akzeptieren, dass es in der Gesellschaft Gegensätze und Widersprüche gebe. Durch Aufeinander-Zugehen, Aufeinander-Eingehen und Rücksichtnahme könne viel geschafft und bewirkt werden, so Stelzers Überzeugung. Dabei müssten jedoch die Rahmenbedingungen klar sein und nötigenfalls eingefordert bzw. verteidigt werden, etwa wenn es um unverrückbare und unhinterfragbare Prinzipien wie die Menschenrechte oder ein demokratisches Staatsgefüge gehe, unterstrich der Landeshauptmann.
Lederhilger: Kritische Bildung befähigt zu konstruktivem Agieren gegenüber den Herausforderungen der Zeit
Univ.-Prof. DDr. Severin Lederhilger OPraem, Generalvikar der Diözese Linz und Professor für Kirchenrecht an der Katholischen Privat-Universität Linz, nahm in seinem Eröffnungsreferat eingangs Bezug auf eine kürzlich präsentierte multinationale Studie über die Zukunftssorgen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der EU. Im Blick auf die kommenden 20 Jahre nennen 35,4 % der fast 4.000 Befragten im Alter zwischen 16 und 25 Jahren als ihre größte Zukunftsangst den Terrorismus, gefolgt von Krieg in Europa (25,9 %) sowie die Angst vor Diskriminierung, Vorurteilen und Rassismus (21 %). Echte Sorgen bereiten ihnen neben dem Klimawandel vor allem mögliche Arbeitslosigkeit (20,8 %) und Armut, aber auch Gewalt, Kriminalität (17,7 %), Bürgerunruhen und ein Zusammenbrechen der Europäischen Union. Als herausragende Zukunftsvisionen führen sie demgegenüber mit 38,6 % Bildung als politisches Ziel an, gefolgt von Menschenrechten (38,4 %), Freiheit (28,3 %), Sicherheit (28,1 %) und Gesundheitsversorgung (27,1 %). Lederhilger zum Ergebnis der Studie: „Auch wenn national unterschiedliche Gewichtungen dieser Angaben bestehen, so verweisen die Ergebnisse doch stark auf ein Auseinanderdriften des gesellschaftlichen Zusammenhalts und auf eine zunehmend spürbare Aufspaltung der sozialen Milieus und der zugrundeliegenden ökonomischen Gegebenheiten. Diese Spaltungen sind als Konfliktpotenzial also schon im kollektiven Bewusstsein angekommen.“ Ziel der Ökumenischen Sommerakademie, so Lederhilger, seien ein „furchtlos-nüchterner Blick“ auf die Fakten, die Analyse sozialer, ökonomischer und kultureller Entwicklungen sowie die Thematisierung konkreter sozialethischer, gesellschaftspolitischer und pastoraler Reaktionsmöglichkeiten „nicht zuletzt seitens der Kirchen“.
Pluralität, die zunächst zum positiven Selbstverständnis westlicher Gesellschaftssysteme und der Kirchen in ihnen gehöre, stelle sich mit zunehmender Diversität im alltäglichen Zusammenleben als „gesellschaftlich sehr komplexe Herausforderung“ dar, konstatierte der Generalvikar. Damit einher gehe eine kontinuierliche Entwicklung hin zu Problematisierung, Infragestellung oder Angst vor dem Verlust eigener oder sozialer Identität, betonte Lederhilger in Anlehnung an den Innsbrucker Sozialethiker Wilhelm Guggenberger. Ein Gefühl der Ratlosigkeit, der Ohnmacht, der Unbestimmtheit und Überforderung mache sich durch die „Tyrannei der Möglichkeiten“ breit, „die dann leicht in fundamentalistisch aggressive Stimmungen umschlagen kann und nur allzu gern populistisch vereinfachte Lösungen in einem Narrativ allgemeinen Misstrauens übernimmt“, wie Lederhilger meinte. Die Orientierungslosigkeit von Individuen hinsichtlich der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung äußere sich in Hilflosigkeit bei der Begegnung mit kulturell und religiös anderen Konzepten der Lebensgestaltung. Diese Hilflosigkeit könne zwei unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: das „begeisterte Einschwingen“ auf solche Konzepte, die Orientierung versprechen, oder die Ablehnung alles Fremden, das den ohnehin schon breiten Horizont der Möglichkeiten zusätzlich erweitert. Lederhilger: „Damit kommt gerade einer kritischen – auch politischen – Bildung und der Befähigung zu persönlicher Positionierung große Bedeutung zu. Durch ein derart konstruktives Agieren gegenüber den Herausforderungen der Zeit wird jeglichem destruktiven Agitieren der Boden für unüberbrückbare Spaltungen entzogen.“ Bildung sei ein Schlüsselwort hinsichtlich der wirtschaftlich bedingten Ungleichheiten in der Gesellschaft, die die Solidarität zerstörten, so die Überzeugung Lederhilgers. Der Kirchenrechtler: „Staatliche Instanzen, Sozialpartner und politische Institutionen sind hier gefordert, und die Kirchen haben sich sachkundig in den Dialog einzubringen.“
Die sich abzeichnenden oder bereits vorhandenen Spaltungen in der Gesellschaft seien „kein Naturgesetz“, stellte Lederhilger klar. Es gehe nicht darum, angesichts der pluralen Lebensstile und Lebensentwürfe in den diversen Milieus Uniformität zu propagieren, sondern darum, das Nebeneinander der Gruppierungen wieder mehr miteinander in Berührung zu bringen, damit nötige gesellschaftspolitische Konsequenzen deutlich und umsetzbar würden. Die Schuld zuweisende Aussage ‚Jeder ist seines Glücks Schmied‘ sei angesichts der Verflochtenheit des Individuums mit den ökonomischen Voraussetzungen und sozialen Umständen „sehr zu hinterfragen“. Lederhilger wörtlich: „Die christliche Soziallehre achtet daher sowohl auf das Gemeinwohl und die Solidarität untereinander als auch auf die konkreten Personen, deren Lebenschancen oft durch strukturelle Ungleichheiten und Abgrenzungen merklich reduziert werden. Das Auseinanderdriften von Arm und Reich in der Bevölkerung, das Schrumpfen der Mittelschicht, die immer noch wesentlich die ganze Steuerlast trägt, bzw. die Angst dieser Mittelschicht, finanziell in einen ungesicherten Status abzugleiten, führt verstärkt zu Konflikten wegen vermeintlicher oder echter Gefährdungen durch andere Gruppen bis hin zu verbalen oder sogar handgreiflichen Auseinandersetzungen.“ Während Forschungsberichten zufolge Gesellschaften mit höherer Ungleichheit ein Mehr an Verbrechen, an Korruption, an physischen und psychischen Erkrankungen aufwiesen, könnte demgegenüber gerade „ein Mehr an Gleichheit der Schlüssel für eine lebenswertere Gesellschaft mit mehr Freundlichkeit, Vertrauen und Gemeinschaftssinn sein“, so Lederhilgers Überzeugung.
Lehner: Auch in Differenz und Spaltung ist Einheit als Geschöpfe Gottes nicht aufgehoben
Superintendent Dr. Gerold Lehner wies eingangs auf die Notwendigkeit hin, den Begriff der „gespaltenen Gesellschaft“ genauer zu definieren: „Unterschiede in der Gesellschaft, vor allem in Bezug auf Wohlstand und Reichtum, hat es immer gegeben. Von welchem Zeitpunkt an, von welchem Grad der Differenz an spricht man von einer Spaltung, und – schwieriger zu definieren – welches Bild der Einheit steht hinter der Klage von der Spaltung? Ab wann sprechen wir von Spaltungen, welche einer Gesellschaft zusetzen, und zwar so, dass sie deren Funktionieren zu beeinträchtigen drohen? Oder ist die Gesellschaft insgesamt als Zustand geeinter Einheiten bereits eine Fiktion?“ Vom Christentum her sei die Klammer, die alles überwölbe, die Geschöpflichkeit. Der Glaube an die damit gesetzte Einheit und Verbundenheit sei „zugleich versehen mit einem herausfordernden Realitätsbezug, der sich gerade in Spannungen und Spaltungen bewähren soll“, wie etwa in der Bergpredigt nachzulesen sei, betonte Lehner.
Auch in der Differenz und in der Spaltung sei daher die Einheit nicht aufgehoben. Der Superintendent wörtlich: „Sie bleibt der Bezugspunkt, der verhindert, dass ich mich von dem, von dem ich mich getrennt fühle, auch tatsächlich trenne. Wir sind und bleiben als Menschen, und zwar als Gesamtheit aller Menschen, in eine Beziehung gesetzt und damit auch in eine wechselseitige Verantwortung füreinander.“ Christen hätten damit einen theologischen Grund, Teile der Welt und ihrer Menschen nicht abzuspalten, betonte Lehner: „In allen Konflikten, allen Differenzen und allen Auseinandersetzungen ist es ihnen nicht gegeben – auch nicht gegenüber einem Gegner, der Leib und Leben bedroht –, eine endgültige Grenze zu ziehen. Auch der Feind ist noch immer Gottes Geschöpf und hört nicht auf, es zu sein“, mahnte der Superintendent. ChristInnen dürften sich daher, „bei aller Klarheit ihrer eigenen Positionen“, nicht in Blasen zurückziehen, in denen sie unter sich blieben.
Spalten und Spaltungen könne man nicht einfach schließen, aber es bestehe die Möglichkeit, tragfähige Verbindungen zu schaffen und Brücken zu bauen, betonte Lehner. Keinesfalls dürfe zugelassen werden, „dass Spalten zu einer Segmentierung und schließlich Isolierung von Menschen und Gruppen führen, bei der am Ende die Bereitschaft zur gewaltsamen Austragung von Konflikten zunimmt“. Dies gelte für die Gesellschaft in Österreich, für Europa und für die Weltgemeinschaft, so Lehner. Der abschließende Appell des evangelischen Superintendenten: „Wir leben in einer Welt und wir sind dazu aufgerufen über die Spalten hinweg Verbindungen zu knüpfen, die verhindern, dass das gemeinsame Haus, das wir bewohnen, zerbricht, und wir am Ende in Ruinen hausen.“
Neckel: Spaltung durch gravierenden Wandel in der sozialen Ungleichheit
Dr. Sighard Neckel, Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Universität Hamburg,beschrieb in seinem Eröffnungsvortrag auf eindrückliche Weise die „Wiederkehr der Gegensätze“. Er skizzierte dabei die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse und die daraus resultierenden sozialen und politischen Konsequenzen, vor allem unter Bezugnahme auf Zahlenmaterial aus Deutschland und Österreich. Seinen Ausführungen stellte Neckel die Diagnose voran, dass die heutige Gesellschaft eine Gesellschaft der Unterschiede sei. Problematisch werde dies, „wenn man sich gegenseitig gewissermaßen aus den Augen verliert, wenn sich die gesellschaftlichen Gruppen nicht einmal mehr begegnen, sondern in verschiedenen Welten leben“, so Neckel. Daraus könnten Gegensätze, Gegnerschaften und letztlich Feindschaften entstehen, die die Grundlagen einer modernen demokratischen Gesellschaft zerstörten. Der Soziologe ortet eine paradoxe Entwicklung: Einerseits nehme der Wohlstand weltweit zu, im selben Maße aber auch die ungleiche Verteilung dieses Wohlstandes.
Neckel betonte, in den letzten zwei Jahrzehnten habe in Deutschland, Österreich und zahlreichen anderen westlichen Ländern ein „gravierender Wandel in der sozialen Ungleichheit“ stattgefunden: Einerseits seien zahlreiche neue Privilegien für vermögende Kreise etabliert worden, während andererseits untere Schichten zunehmend mit Armut, unsicheren Arbeitsverhältnissen und gesellschaftlicher Isolation konfrontiert worden seien. Neckel: „Der wirtschaftliche Aufstieg der Finanzmärkte und die wirtschaftliche Globalisierung seit den 1990er Jahren hat Veränderungen in der Verteilung von Wohlstand, Lebenschancen und Macht mit sich gebracht, die an vormoderne Zeiten erinnern. Wir befinden uns auf einer komischen Zeitreise, wo einerseits alles nach vorne geht, immer moderner, innovativer wird, und wir gleichzeitig ältere Verhältnisse zurückbekommen die wir überwunden glaubten. So verfügen etwa heute die gesellschaftlichen Oberschichten nicht nur über ein historisch großes Vermögen, sie gewinnen sogar politischen Einfluss und mitunter sogar staatliche Macht.“
Neckel diagnostizierte eine „Polarisierung der Einkommen“ auch in Österreich: Zwischen 1990 und 2014 sei der Lohnanteil der unteren 20 Prozent in Österreich um mehr als 50 Prozent am gesamten Einkommenswohlstand gesunken, während der Anteil der oberen 20 Prozent mit den höchsten Einkommen um fast 10 Prozent gestiegen sei. Eklatant sei in diesem Zeitraum der „historische Anstieg der Spitzeneinkommen“ in fast allen westlichen Ländern. Neckel illustrierte dies anhand von Zahlen aus Deutschland und Österreich. In Österreich etwa hat sich das Verhältnis der Vorstandsgehälter der börsennotierten Unternehmen zu den Durchschnittsgehältern von 2003 bis 2017 um 208 Prozent gesteigert, während bei mittleren Einkommen nur ein Anstieg von 32 Prozent zu verzeichnen ist. Neckel dazu: „Die Kluft zwischen Spitzengehältern und normalen Arbeitseinkommen hat gewaltige Ausmaße, die sich im Zeitraum von nicht einmal einer Generation entwickelt haben.“
Dieser sprunghafte Anstieg der Einkünfte der Wirtschaftseliten könne mit keinem wirtschaftlichen Faktor erklärt werden, so der Soziologe: Spitzeneinkommen seien kein „pay for performance“, sondern Ausdruck einer gewachsenen Macht. „Der Finanzsektor steht wie kein anderer für die Ablösung von leistungsbezogenen Grundsätzen, auf die sich Marktwirtschaft beruft“, konstatierte Neckel. In einer Gesellschaft, die sich zur Rechtfertigung sozialer Unterschiede auf Leistungsprinzip und fairen Wettbewerb beziehe, müsse eine solch ungerechte Verteilung des Wohlstandes auf berechtigte Kritik stoßen.
Die Vermögensverteilung zeichnet ein ähnliches Bild: In Österreich liegt mehr als die Hälfte des gesamten Privatvermögens in den Händen der reichsten 10 Prozent aller Haushalte. Das reichste eine Prozent aller Haushalte besitzt rund 40 Prozent des gesamten Nettovermögens, während die unteren 50 Prozent gerade einmal 2,5 des Vermögens in Österreich besitzen. Der sogenannte Gini-Koeffizient, der die ungleiche Verteilung von Vermögen in einer Gesellschaft angibt, liegt in Österreich bei 0,73. Neckel: „Österreich ist damit nach Deutschland die Gesellschaft mit der zweithöchsten Vermögensungleichheit in der Eurozone. In beiden Ländern gibt es bei den Vermögen keine breite Mittelschicht, sondern mehr und mehr nur noch ein Oben und Unten.“
Solche Entwicklungen führten dazu, dass viele wirtschaftliche Führungsnationen sich auf ein Ausmaß an Vermögensungleichheit hinbewegten, wie es im späten 19. Jahrhundert bestanden habe, so der Soziologe. Er erläuterte anhand der Situation in Deutschland diese Widerkehr der Gegensätze: „In Deutschland ist die Vermögensungleichheit heute fast so hoch wie am Ende des Kaiserreichs. In den letzten 20 bis 25 Jahren ist die gesamte Politik des sozialen Ausgleichs, die sich in der Nachkriegszeit vollzogen hat, gewissermaßen verschwunden. Die Gesellschaften befinden sich wieder viel stärker in der Situation des 19. Jahrhunderts. Seit den 1990er Jahren wurden Besitzer von Sach- und Finanzvermögen, von Immobilien und Unternehmensbeteiligungen ökonomisch bevorteilt gegenüber denjenigen, die für ihren Vermögensaufbau auf Arbeitseinkommen angewiesen sind.“
Überdies spiele leistungslose Vermögensübertragung in Form von Erbschaften eine sehr wesentliche Rolle, was Wohlstand und Lebensstandard betreffe. Neckel sprach diesbezüglich vom „Matthäus-Prinzip“ (nach der Bibelstelle aus dem Matthäus-Evangelium: „Wer hat, dem wird gegeben“), das er durch Zahlen aus Österreich belegte: Nur knapp ein Drittel der unteren 90 Prozent der Bevölkerung erbt überhaupt. Bei den oberen 10 Prozent erben drei Viertel der Haushalte im Schnitt 830.000 Euro – das entspricht dem 7-Fachen, das die anderen 90 Prozent aller Haushalte an Erbschaft erwarten können. Das reichste Prozent erbt durchschnittlich 3,4 Millionen Euro. Je reicher ein Haushalt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit zu erben. Neckels Diagnose: „In den gesellschaftlichen Oberschichten sind die Chancen hoch, sich dem Markt zu entziehen und höchste Erträge abseits des Marktes zu erzielen. Die Position bevorteilter Gruppen gibt die Gelegenheit, sich gegenseitig Privilegien zu gewähren. Dieser ‚Entmarktlichung‘ der Lebenslage der Privilegierten steht eine zunehmende ‚Vermarktlichung‘ der Lebenslage breiter Bevölkerungsgruppen, vor allem unterer soziale Schichten, gegenüber.“
Die Politik fördere diese Entwicklung durch die steuerliche Besserstellung von Vermögenseinkommen (keine Erbschaftssteuer, einheitliche Kapitalertragssteuer) im Gegensatz zu Arbeitseinkommen (progressive Besteuerung). „Vermögenseinkommen tragen kaum zur Finanzierung des Sozialstaates bei. Beim Anteil der vermögensbezogenen Steuern zum gesamten Steuereinkommen liegt Österreich an drittletzter Stelle in der OECD“, so Neckel. Mittlere soziale Schichten seien heute erheblichem Druck ausgesetzt. Zu beobachten sei, dass die Mittelschicht nicht nur kleiner, sondern auch zunehmend älter werde. In Österreich sei besonders typisch, „dass die Mittelschichten sich zwar nicht in deutlicher Schrumpfung befinden, aber in Polarisierung, was Einkommen, Konsum und Vermögen betrifft“, betonte Neckel. Die Trennungslinie verlaufe zwischen jenen, die Vermögensbesitz hätten, und jenen, die kein Vermögen besäßen.
Eine schrumpfende und immer älter werdende Mittelschicht sei einer der Indikatoren dafür, dass die soziale Aufwärtsmobilität heute zum Stillstand gekommen sei. Neckel: „Dies hat nicht nur mit dem Anstieg von Einkommensarmut zu tun, sondern mit der Verfestigung von Armutslagen im Lebenslauf. Immer weniger Menschen kommen aus der Armut auch wieder heraus. PISA-Studien zeigen, dass sich der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in kaum einem anderen europäischen Land so hartnäckig hält wie in Deutschland und Österreich.“ In Österreich seien trotz kontinuierlicher Steigerung der Bildungsbeteiligung seit den 1970er Jahren Personen aus bildungsfernen Haushalten nach wie vor stark benachteiligt. 54 Prozent der Kinder mit einem akademischen Bildungsabschluss kommen aus Akademiker-Haushalten, nur 6 Prozent aus bildungsfernen Haushalten. „Dass heute die Zunahme von Ungleichheit mit niedriger sozialer Mobilität einhergeht, ist die Regel in allen modernen Gesellschaften der Gegenwart, die nichts gegen ihre zunehmende Polarisierung in der Sozialstruktur unternehmen. Nicht nur die Verteilungsgerechtigkeit wird dadurch verletzt, sondern auch die Chancengleichheit. Was für eine Gesellschaftsordnung, die sich auf das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit beruft, eigentlich ein Armutszeugnis ist“, stellte Neckel klar.
Politisch habe die zunehmende Ungleichheit zur Folge, dass die Zustimmung zur Demokratie, vor allem der unteren 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung, immer mehr untergraben werde. Dies habe mit der „Responsivität des politischen Systems“ zu tun, wie Neckel erklärte: Wenn aus Bevölkerungsgruppen an das politische System Anforderungen gestellt werden: Welche Forderungen erfüllt, welche übergeht das politische System? In den meisten westlichen Ländern wurden die Forderungen höherer Schichten zu einer politischen Agenda, nicht aber die Interessen der mittleren und unteren Schichten. Neckels Fazit: „Die soziale Ungleichheit führt also auch zu einer wachsenden Ungleichheit bei der politischen Mitsprache. Mit einem höheren Sozialstatus steigen die Chancen, sich politisch einbringen zu können und mit dem eigenen Anliegen gehört zu werden.“
In den OECD-Ländern hätten Arbeiterschaft und untere Mittelschichten durch die Globalisierung weltweit gesehen am meisten an Sicherheit und Wohlstand eingebüßt. Mit diesen Sozialschichten erziele der Rechtspopulismus überall heute seine größten Wahlerfolge, so Neckel – vor allem in Bevölkerungsgruppen, die einst als angestammte Wähler der europäischen Sozialdemokratie galten. Der Rechtspopulismus stilisiere MigrantInnen und Flüchtlinge zu Nutznießern des Sozialstaates, sie sollten „für die Verwerfungen der Globalisierung als Sündenböcke herhalten“, diagnostizierte Neckel. Diese „Einladung zum Ressentiment“, die von autoritären, völkischen und offen faschistischen Parteien ausgehe, werde angenommen, „weil die linken Regierungsparteien in den vergangenen Jahrzehnten der wachsenden Ungleichheit nicht nur hilflos gegenüberstanden, sondern sie mit ihrer ‚Reformpolitik‘ herbeigeführt haben. Dadurch ist politisch eine Repräsentationslücke entstanden, die jetzt von Rechtspopulismus ausgefüllt wird, der sich in wirtschaftlicher und kultureller Sicht gern als Schutzmacht der kleinen Leute ausgibt.“
Neckels Bilanz: Die Gesellschaft befindet sich in einem Prozess, den der Soziologe als „Refeudalisierung des modernen Kapitalismus“ bezeichnet. Dabei handle es sich nicht um eine Wiederkehr alter Zeiten, sondern um das „Ergebnis von ökonomischen Modernisierungsprozessen, die schließlich zu Privilegien, Renditen und Machtmonopolen führen, die in modernster Form vormoderne Muster sozialer Ungleichheit wieder aktuell werden lassen“. Der Soziologe sieht eine wichtige Aufgabe in Gesellschaftspolitik darin, „die moderne Gesellschaft, in der wir leben, gegen sich selbst zu verteidigen und nicht tatenlos zuzusehen, wie die Wiederkehr der Gegensätze die Maximen und Prinzipien einer modernen Gesellschaft verletzt“.
Zulehner: Einer entsolidarisierenden „Kultur der Angst“ eine solidaritätsbereite „Kultur des Vertrauens“ entgegensetzen
Dr. Paul M. Zulehner, emeritierter Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien, thematisierte in seinem Vortrag „Kirchen als Oasen ausufernden Vertrauens in Kulturen der Angst“. Zulehner beleuchtete zum besseren Verständnis das Phänomen der Angst zunächst interdisziplinär –, politologisch, medienwissenschaftlich, kulturell, tiefenpsychologisch und theologisch –, um dann zu erläutern, wie man in der Angst bestehen könne und wie man ihr – mit dem Beitrag der Kirchen – eine Kultur des Vertrauens entgegensetzen könne.
„Wir leben heute in Europa in einer Kultur der Angst“, so das Eingangsstatement von Zulehner. Mit dem französischen Politologen Dominique Moïsi ortet er in Nordamerika und Europa eine „culture of fear“, während etwa in China und Indien, Südkorea und Japan eine „culture of hope“ vorherrsche. Auslöser für die angstvolle Grundstimmung in Europa sei die Finanzkrise 2008 gewesen, die Ankunft von Schutz suchenden Menschen vor allem aus Kriegsgebieten des Nahen Ostens und Afghanistan habe die Angst vieler Menschen noch gesteigert, so Zulehner.
Gefördert werde die „Kultur der Angst“ auch durch die Medien (vor allem die Boulevard-Medien, die aus Verkaufsgründen bad news bevorzugten), durch eine Sprache der Angst (etwa „Flüchtlingslawinen“, „Flüchtlingswellen“, gegen die man sich „abschotten“ müsse) – und durch Parteien – „häufig sind sie rechtsgerichtet und in ihrer Rhetorik populistisch“ –, die eine Politik mit der Angst betreiben, betonte der Pastoraltheologe. Er verwies auf eine von ihm 2016 durchgeführte Online-Umfrage, auf Basis derer er eine Liste von Positionen einer Politik der Angst erstellt hatte: Europa müsse zur Festung ausgebaut werden; es kämen nur Wirtschaftsflüchtlinge; man müsse vor der Islamisierung Angst haben; die schutzsuchenden Menschen seien von Terroristen und Kriminellen unterwandert; es gebe eine Einwanderung in den Sozialstaat, die diesen gefährde. Wenn es so weitergehe, werde alles in eine Katastrophe münden. Zulehner unterschied in diesem Zusammenhang zwischen Angst und Furcht: „Solche politisch geschürte Angst sitzt im Bauch, ist irrational, lähmt das solidarische Tun, erzeugt Hass und Aggression. Ganz anders die Furcht: Diese sitzt im Kopf, ist rational, ist zuversichtlich, wird schöpferisch aktiv und sichert so das Überleben. Wie könnte es gelingen, dass aus der Angst im Bauch die Furcht im Kopf wird?“
In derselben Studie unterscheidet Zulehner vier unterschiedliche „Angstbündel“: biografische Ängste (Angst vor Krankheit, Tod), soziale Abstiegsängste, Angst vor Verdrängung des Christentums durch einen „gebärfreudigen“ Islam und die Angst, angesichts „himmlischer Glücksträume“ auf dieser Erde zu kurz zu kommen. „Und diese letzte Angst entsolidarisiert“, so Zulehner. In Anlehnung an die Schweizer Tiefenpsychologin Monika Renz analysiert Zulehner die Ursache für jene Angst, die die europäische Kultur heute nachhaltig prägt. So trügen alle Menschen seit dem Erwachen des Bewusstseins eine Art Urangst in sich, die zwei Facetten habe, wie Zulehner erläuterte: „Es ist zu viel (verloren), was auf das erwachende Bewusstsein einströmt. Aber es gibt auch eine gegenläufige Facette: Es ist – vor allem nach der Geburt – die Angst, es könnte zu wenig sein (bedroht), was das abgenabelte Neugeborene zu überleben in der weiten und doch kalten Welt braucht. Diese beiden Urängste widerstreiten einander, können aber gleichzeitig das Leben bestimmen: zu viel und zu wenig, bedroht und verloren.“ Im Verlauf des Lebens würden diese beiden Facetten jeweils mit neuen Inhalten gefüllt. Zulehner illustrierte dies am Beispiel der Ängste, die in der Flüchtlingszeit aufgetaucht sind: „Die große Zahl an Schutzsuchenden, die im Herbst 2015 in Scharen ins Land gekommen sind, wird uns zu viel, ihre große Zahl bedroht uns, wir haben die Angst die Kontrolle zu verlieren. Zugleich aber haben heute nicht wenige Angst vor dem ‚zu wenig‘: die Einwanderung in den Sozialstaat, der Andrang auf einen angespannten Arbeitsmarkt könnten dazu führen, dass wir uns den Sozialstaat nicht mehr leisten können und dass auch uns die Arbeit zu wenig wird.“ Um mit dieser Angst leben zu können, würden Menschen zu sogenannten Selbstsicherungsstrategien greifen, so der Pastoralpsychologe: „Monika Renz nennt als die drei herausragenden Selbstsicherungsstrategien Gewalt, Gier und Lüge – Mechanismen, mit denen wir Menschen uns vor unserer eigenen Angst schützen. Diese Strategien finden sich heute auch im politischen Alltag. Dort heißen sie Terrorismus, Finanzgier und Korruption.“
Aus theologischer Perspektive haben sich etwa Sören Kierkegaard, Eugen Drewermann, Eugen Biser, Monika Renz, Benedikt XVI. und Papst Franziskus mit dem Phänomen der Angst beschäftigt. Die These in der theologischen Dissertation von Monika Renz: Die Prägung durch die Urangst gibt das wieder, was in der Theologie „Erbschuld“ genannt wird. Zulehner: „Das aufkeimende duale Bewusstsein, was gut und böse ist, hat zum Erstehen der Urangst geführt, mit der Folge, aus dem Paradies des Urvertrauens vertrieben worden zu sein. So gesehen haben alle Menschen einen Migrationshintergrund: Wir sind alle Paradiesesvertriebene und leben wie in der Fremde – griechisch paroikia: also in Pfarren, und wir sind unterwegs in unsere Heimat, die im Himmel ist.“ Es gehe nicht darum, so Zulehner, „dass wir von dieser Welt in diesen Himmel gerettet werden, sondern dass jetzt der Himmel zu uns kommt. Das wäre Aufgabe aller Gemeinden hier in der Diözese: dass ein bisschen mehr Himmel vor Ort möglich ist.“ Eine der Hauptwirkung der Urangst ist für Zulehner, „dass sie uns die Fähigkeit zu solidarischer Liebe raubt“. Genau dies aber sei die Berufung von Menschen als Ebenbilder eines Gottes, der die Liebe ist: liebende Menschen zu werden.
Wie kann man nun in der Angst bestehen – und das inmitten von Kulturen der Angst? Statt gegen die Angst anzukämpfen, gelte es vielmehr, „das Vertrauen so zu stärken, dass es die Oberhand über die Angst gewinnt“, und den Zugang zum Urvertrauen freizulegen, das von Ängsten verschüttet sei, so Zulehner. Als Maßnahmen zur Vertrauensbildung nannte Zulehner verlässliche, liebevolle Bindungen in der frühen Kindheit, umfassende Bildung (Persönlichkeitsbildung, politische und interreligiöse Bildung) und eine „Politik des Vertrauens“, die eine zuversichtliche Grundstimmung erzeugt. Solche vertrauensbildenden Vorgänge nennt Zulehner „säkulare Sakramente“: „Sie schaffen einen Erfahrungs- und Handlungsraum, der nicht von Ängsten, sondern von Vertrauen durchflutet ist. In solchen Räumen der Gesellschaft wird nicht moralisiert, auch nicht polemisiert, wird keine Politik mit der Angst gemacht. Das Hauptziel besteht vielmehr darin, das in jedem Menschen ruhende Urvertrauen wieder zu heben, in der Hoffnung, dass dadurch eine Politik des Vertrauens auch politisch wählbar wird.“
Wie können nun die christlichen Kirchen zu einer solchen Kultur des Vertrauens beitragen? Zulehner ist davon überzeugt, dass sie dabei auf ihre „religiöse Kernkompetenz“ zurückgreifen können, nämlich auf das „Zurückbinden“ (lateinisch „religare“): „Rückgebunden wird der Mensch auf den Grund seines Lebens, wo die Quelle des Urvertrauens wohnt: der liebende Gott“, formulierte es Zulehner mit dem amerikanischen Mystiker und Franziskaner Richard Rohr. Für Monika Renz sei Jesus in seinem Leben und Sterben ein „Dauerverbundener“ mit dem Vater, während die Menschen diese Verbundenheit ständig neu herstellen bzw. vertiefen müssten, etwa durch „die Begegnung mit Gott in den Armen, das Lesen in den alten Erzählungen der heiligen Bücher, die Feier der Gottesdienste und der Sakramente, vor allem das Eintauchen in die Vereinigung mit dem Auferstandenen in der Feier der Eucharistie“, so Zulehner. Auf diese Weise könnten die christlichen Kirchen, so wie die anderen großen Religionen, zu „Oasen ausufernden Vertrauens“ inmitten der Kulturen der Angst werden, ist Zulehner überzeugt. Wer sich in eine solche Gemeinschaft des Vertrauens einbinde, habe es leichter, inmitten der bedrängenden Kulturen der Angst in der Angst zu bestehen. Zulehners Vision: „Eine solche einsatzfreudige Kultur des Vertrauens könnte in unseren Gemeinschaften noch viel kräftiger sein, wenn wir es Gottes Geist gestatten würden, uns in der Feier der Eucharistie aus „Angsthasen“ in solidaritätsbereite Fußwascherinnen und Fußwascher“ umzuwandeln. Könnte das Gottes Geist bei den Versammelten bewirken, wäre das Land Österreich angesichts von 800.000 KirchgängerInnen pro Sonntag am nächsten Morgen anders – weniger kühl und reicher an Menschlichkeit – und würden Wahlergebnisse anders ausfallen. Eine Politik mit der Angst könnte dann leichter durch eine Politik des Vertrauens mit menschlichem Angesicht abgelöst werden. Es wäre ein Segen für unser Land und für Europa, ja darüber hinaus für die Armen der Welt, könnte ein göttlicher Rückenwind von den Kirchen ausgehen und das Land zu einer Kultur und Politik des Vertrauens beflügeln.“
Der Eröffnungstag klang mit einem Empfang aus, zu dem das Land Oberösterreich einlud.
Infos und Vorträge zum Nachhören unter https://www.dioezese-linz.at/oekumenische-sommerakademie-kremsmuenster
Bericht: Kommunikationsbüro der Diözese Linz, Barbara Eckerstorfer
Fotos: Diözese Linz / Kraml
20 Jahre Ökumenische Sommerakademie
Seit dem Jahr 1999 beschäftigt sich die Ökumenische Sommerakademie mit Fragen, die die Menschen aktuell bewegen und bei denen sie auch Antworten von TheologInnen und Kirchen erwarten. Die Themen dieser 20 Jahre sind breit gestreut und reichen von Politik und Ökonomie über Gentechnik, Hirnforschung und digitale Revolution bis zu existentiellen Fragen der einzelnen Menschen.
Die 21. Ökumenische Sommerakademie findet von 10. bis 12. Juli 2019 im Kaisersaal des Stiftes Kremsmünster statt. Die Vorträge und Diskussionen sind öffentlich zugänglich. VeranstalterInnen sind die Katholische Privat-Universität (KU) Linz, der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich, das Evangelische Bildungswerk Oberösterreich, die Linzer KirchenZeitung, das Stift Kremsmünster, die Religionsabteilungen des ORF in Fernsehen und Hörfunk und das Land Oberösterreich. Medienpartner sind der ORF Oberösterreich und die Oberösterreichischen Nachrichten (OÖN). Organisiert wird die Ökumenische Sommerakademie von der KU Linz.