Neueste Erkenntnisse über den Tassilokelch
Ein Forschungsprojekt in Deutschland hat unseren ältesten Kunstgegenstand fünf Jahre lang untersucht. Die Ergebnisse liegen nun vor und eröffnen erstaunliche Perspektiven.
Buchpräsentation versammelt hochrangige Wissenschaftler und prominente Gäste
Im stimmigen Ambiente des Kaisersaals betonte Abt Ambros Ebhart OSB: „Ich empfinde es als kostbares Geschenk, dass uns der Tassilokelch anvertraut ist. Für unser Kloster Kremsmünster ist er ein Wegbegleiter durch zwölf Jahrhunderte. Der Tassilokelch veranschaulicht die Wurzel, die an den Anfang unseres Klosters zurückführt.“ Ein gesundes Traditionsbewusstsein müsse aber auch einher gehen mit der Offenheit gegenüber wissenschaftlichen Untersuchungen, zeigte sich Abt Ambros überzeugt: „Ich sage allen denen einen herzlichen Dank und Vergelt’s Gott, die sich um die Untersuchung des Kelches angenommen haben.“
Der mittlerweile emeritierte Direktor des Archäologischen Museums in Frankfurt, Univ.-Prof. Dr. Egon Wamers, nannte als Forschungsziel, „dieses hochrangige Werk der frühen Schatzkunst und Staatsdenkmal der bairisch-österreichischen Kunstgeschichte erstmals nach den modernsten naturwissenschaftlichen Methoden sorgfältig zu untersuchen. Zu klären war seine eindeutige material- und fertigungskundliche Authentizität, seine kunstgeschichtliche Verortung, seine funktionale Bestimmung und vor allem sein ikonographisches Programm.“ Prof. Wamers dankte im Namen der „Wissenschaftscommunity“ dem Stift Kremsmünster unter Abt Ambros, „dass der Kelch, der über die Jahrhunderte Teil der Identität des Stiftes geworden ist, für mehr als sieben Monate an das renommierte Römisch-Germanische Zentralmuseum Mainz für die Dokumentation und die archäometrischen und goldschmiedetechnischen Untersuchungen reisen durfte.“
Prof. Wamers bezeichnete es als „große Ehre und Höhepunkt meines Forscherlebens“ dieses Projekt federführend begleitet zu haben und fasste die wichtigsten Erkenntnisse zusammen: „Dieser außergewöhnliche Abendmahlskelch wurde vor etwa 1250 Jahren im Salzburger Raum geschaffen. Auf wundersame Weise hat er die Stürme der Zeit überlebt.“ Zweifelsfrei sind Herzog Tassilo und seine Frau die Stifter des Kelchs. Die Inschrift lautet: „Tassilo dux fortis, Liutpirc virga regalis – Tassilo, starker Fürst – Liutpirc, aus königlichem Geschlecht.“ Da aber auch Tassilos Ehefrau Luitpirc am Kelch als Stifterin genannt wird, sei es höchste Zeit, den Kelch als Tassilo-Liutpirc-Kelch zu bezeichnen.
Geschichte wird neu geschrieben
Gängige Erklärungen sind mit dieser Untersuchung nicht mehr haltbar, wie etwa dass der Kelch ein Hochzeitskelch für Herzog Tassilo gewesen oder in Irland bzw. Oberitalien hergestellt worden sei. Bedeutend ist auch die Erkenntnis, dass der Kelch nie in der Weise verändert wurde, dass der Fuß von der Kuppa getrennt worden sei – auch darüber wurde in der Vergangenheit gemutmaßt. Prof. Wamers: „So wie sich der Kelch uns heute präsentiert, stellt er den Originalzustand dar, also nicht drehbar, Originalposition von Kuppa zu Nodus/Fuß. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen und Analysen werden das neue, sichere Fundament für alle zukünftigen, auch kunsthistorischen Forschungen sein.“
Fest stehe, dass es sich von Anfang an um einen liturgischen Messkelch handelte. Prof. Wamers zeigte sich überzeugt, dass der Kelch ein Werk der Hofschule Tassilos unter dem Einfluss von Bischof Virgil und seinem gelehrten Umkreis in Salzburg war. „Diese Hofkunst wurde offenkundig im Zuge von Tassilos Sturz 788 durch Karl dem Großen vernichtet und vergessen, so dass es heute nur noch versprengte Reste gibt.“ Es sei davon auszugehen, dass dieser Kelch im Stift Kremsmünster der Rest eines größeren liturgischen Schatzes ist und die weiter dazugehörende Gegenstände wie eine Patene verloren sind.
Offen für verschiedene Deutungsmöglichkeiten
Die Untersuchungen wurden angestoßen von Pater Altman Pötsch OSB, der sich in seinen Forschungen an Prof. Wamers als den herausragenden Experten des Kelches gewandt hatte. Es entstanden fruchtbare Kontakte zwischen dem Stift Kremsmünster und deutschen Forschungsstätten. In seinem Referat ging P. Altman, Kustos der Kunstsammlungen und Rektor der Stiftskirche, auf das theologische Programm näher ein und unterstütze die These durch seine Interpretation der Anordnung der Buchstaben, dass der Kelch auf Bischof Virgil von Salzburg verweise. P. Altman machte auch deutlich, wie sich der Umgang mit dem Tassilo-Liutpirc-Kelch im Stift Kremsmünster gewandelt habe. „Noch im Jahre 1877 wurde der Kelch zur 1100-Jahr-Feier unserer Gründung als Weinbecher herumgereicht. Seit 1964 verwenden wir ihn ausschließlich liturgisch in der Eucharistiefeier am Gründonnerstag, am Stiftertag am 11. Dezember sowie bei einem Papstbesuch in Österreich.“ So wurde der Kelch 1983 im Donaupark von Papst Johannes Paul II. und 2007 in Mariazell von Papst Benedikt XVI. verwendet. Er findet zudem Verwendung als Wahlurne bei einer Abtwahl.
Der Leiter des Regensburger Verlags Schnell & Steiner, Dr. Albrecht Weiland, nannte in seiner Rede den vorstellten Band als herausragende Publikation. Diese sei „eine archäologisch-kunsthistorische Abhandlung und zugleich ein wesentlicher Beitrag zur frühen Kulturgeschichte Europas. Dieses Werk ist außerdem ein wichtiger Beitrag zur Schmiede- und Schatzkunst des frühen Mittelalters, das für zukünftige Forschungen Maßstäbe setzt.“ Schmunzelnd schilderte der Verlagsleiter das ursprüngliche Ansinnen, eine übliche Publikation von ca. 256 Seiten herauszubringen. Doch die 24 fundierten Einzelbeiträge der 19 Autorinnen und Autoren sowie das Bildmaterial hätten diesen Rahmen bei weitem gesprengt. Dr. Weiland fügte hinzu: „Es grenzt fast schon an ein Wunder, dass dieser großartige Kelch erhalten geblieben ist. Dies ist ein Ausdruck der hohen Wertschätzung und Verehrung, die das Stifterpaar hier im Stift Kremsmünster über so viele Jahrhunderte hinweg erfahren darf.“
Zugegen waren bei der Präsentation Wissenschaftler, die am Sammelband mitgewirkt hatten, aber auch der emeritierte Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz, Univ.-Prof. Dr. Falko Daim, und der Historiker Herwig Wolfram, der Doyen der bairisch-österreichischen Frühgeschichtsforschung. Neben namhaften Persönlichkeiten aus Politik und Kirche waren Mönche, Mitarbeiter und Freunde des Stiftes Kremsmünster sowie zahlreiche Interessierte in den Kaisersaal gekommen. Viele von ihnen haben sogleich das druckfrische Buch erstanden.
Zum Gelingen des Abends trug die musikalische Gestaltung durch Prof. Ingrid Achleitner (Klavier) und P. Altman Pötsch (Violine) bei. Passend zum Tassilo-Liutpirc-Kelch wurden die Musikstücke ausgewählt: W.A. Mozart (der Kelch entstand in Salzburg), E. Elgar (für den angelsächsischen Einfluss), D. Pejačević (langobardischer Einfluss), G. Perlmann (letztes Abendmahl in Jerusalem).
Angaben zum Buch
Egon Wamers (Hg.)
Der Tassilo-Liutpirc-Kelch im Stift Kremsmünster
Geschichte – Archäologie – Kunst
mit Beiträgen von: Matthias Becher, Anja Cramer, Rüdiger Fuchs, Reinhard Gratz, Susanne Greiff, Martina Hartmann, Sonngard Hartmann, Wilfried Hartmann, Guido Heinz, Elisabeth Krebs, Stephan Patscher, Alexandra Pesch, P. Altman Pötsch, Renate Prochno-Schinkel, Katrin Roth-Rubi, Michael Ryan, Anton Scharer, Florian Ströbele, Egon Wamers, Herwig Wolfram
Schriften des Archäologischen Museums Frankfurt, 32
Schnell & Steiner Verlag, Regensburg 2019
Hardcover, H 28.00 cm / B 21.00 cm / 2485.00 g
496 Seiten, ISBN 978-3-7954-3187-7, € 51,40
Der Herausgeber des erwähnten Bandes, Prof. Dr. Egon Wamers, stellte diesen Text zusammen, den wir hier zur Vertiefung anbieten:
Das Stift Kremsmünster in Oberösterreich beherbergt einen der kostbarsten liturgischen Gefäße des frühen Mittelalters: einen überreich verzierten und prunkvoll beschrifteten Abendmahlskelch. Eine Inschrift auf seinem Fuß sagt, dass er vom Baiernherzog Tassilo III. und seiner Gemahlin, der Langobardenprinzessin Liutpirc, gestiftet wurde.
Tassilo war der letzte Regent aus dem Herzogsgeschlecht der Agilolfinger. Von 748 bis zu seinem ränkevollen Sturz durch seinen jüngeren Vetter, den Frankenkönig Karl den Großen, im Jahre 788 übte er eine glanzvolle Herrschaft über das alte Herzogtum Baiern aus, das von der Donau im Norden bis nach Südtirol im Süden und vom Lech im Westen bis zur Enns im Osten reichte. Regensburg und Salzburg waren die Residenzen.
Seit Jahrhunderten umgeben Glanz und Staunen den Tassilo-Liutpirc-Kelch. Der Forschung gilt das vor etwa 1250 Jahren geschaffene singuläre Kunstwerk als Symbol des alten Baierns und Zeugnis einer künstlerischen Verschmelzung mediterraner und insularer (irisch-angelsächsischer) Kunst im neuen kulturellen Zentrum Salzburg. Hier wirkte der universal gebildete irische Abt und Bischof Virgil von 749 bis 784 mit seinen gelehrten Begleitern. Doch bis in die jüngste Zeit wusste man wenig über die Herstellung, Authentizität und ursprüngliche Funktion des Kelches. Die Botschaft der geheimnisvollen Bilder und Ornamente blieb trotz mannigfachen Bemühungen ein weithin ungelöstes Rätsel.
Erstmals konnte jetzt der altehrwürdige Kelch in einem fünfjährigem Forschungsprojekt des Archäologischen Museums Frankfurt, des Stifts Kremsmünster und des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz umfassend untersucht werden. Die Ergebnisse werden in einem 496 Seiten starken Werk vorgelegt, an dem 20 international renommierte Wissenschaftler (u.a. Archäologen, Archäometriker, Goldschmiede, Historiker, Kunsthistoriker, Theologen) aus vier Ländern mitwirkten. Noch nie wurde der Kelch so eingehend und detailliert dokumentiert, beschrieben und nach jüngstem Stand der Technik analysiert und erforscht. Damit wurde eine völlig neue, für die kommenden Jahrzehnte gültige Basis für die kunst- und kulturhistorischen sowie landesgeschichtlichen Deutungen und Einordnungen des Kelches erarbeitet und präsentiert. Historiker beleuchten das historische Umfeld des Kelches und seiner Stifter. Die Schrift- und Bildzeugnisse zur Geschichte des Kelches im Kloster werden erstmals systematisch vorgelegt. Völlig neu sind auch die von theologischer und kunsthistorischer Seite unternommenen Vorschläge einer ikonografischen Deutung des tiefsinnigen, uns heute verborgenen Bildprogramms. In detektivischer Akribie wird die verlorene Schatzkunst Tassilos III. wieder zum Leben erweckt. Von großem Wert sind Vergleichsstudien über zwei Parallel-Denkmäler zum Tassilo-Liutpirc-Kelch: das Rupertuskreuz von Bischofshofen (ca. 760–780) und den zerstörten Eligius-Kelch aus Chelles (ca. 650), die in dieser Publikation ebenfalls Eingang fanden.
Die wesentlichen Ergebnisse
• Der heutige Zustand des Kelches sowie seine Verzierung sind, bis auf kleinere Beschädigungen im Laufe der Jahrhunderte und Reparturen im späten 18. Jahrhundert, original und authentisch. Nach Fassungsvermögen und Bildschmuck war er seit je als Spendekelch = Abendmahlskelch vorgesehen.
• Er wurde aus bergfrischem, aber nicht lokalisiertem Kupfer getrieben sowie silberplattiert, nielliert und – bis auf Kuppa- und Fußinnenseite – flächig vergoldet. Debattiert wird, ob er ursprünglich einen Einsatzt zum Schutz der Eucharistie gehabt hat. Qualitätsunterschiede zwischen dem Kerbschnittdekor und den niellierten Silberflächen legen unterschiedliche Handwerker nahe.
• Nach den erhaltenen Bild- und Schriftzeugnissen ist seine Existenz im Stift Kremsmünster erstmals sicher für 1326 nachgeweisen. Historische Überlegungen halten auch eine ursprüngliche Fertigung für den Rupertus-Petrus-Dom in Salzburg (geweiht 774) für möglich.
• Nach seiner Morphologie und dem Figurenstil der Silbermedaillons steht der Kelch in mediterraner Tradition; das Kerbschnitt-Ornament stellt Weinstockornamentik insularer Tradition dar. Insgesamt ist der Tassilo-Liutpirc-Kelch ein Werk der – von Virgil und seinem Umkreis geprägten – „insularen Kunstprovinz im Salzburger Raum“, der Hofwerkstätten des Herzogs Tassilo. Nach dem Sturz Tassilos 788 wurde diese Kunst nicht fortgeführt.
• In theologischer Lesung betont das Bildprogramm des Kelches die Doppelnatur Christi und die Einheit der beiden Testamente; das zentrale Motiv bildet die Deësis, und das Hauptbild stellt Christus als König und Hohenpriester nach der Ordnung Melchisedeks dar. Die kunsthistorische Deutung sieht in der Bildstruktur des Kelches die Visualisierung des Neuen Jerusalems nach der Offenbarung des Johannes. Die Himmelsstadt ist in der Funktion des Kelches als Spendegefäß für die Eucharistie anwesend und zugleich Allegorie der Ekklesia (Kirche).
Beteiligte Institute
Unter der Federführung des Archäologischen Museums Frankfurt (Leitender Direktor bis Juli 2017 Egon Wamers) waren institutionell zusätzlich das Stift Kremsmünster (Abt Ambros Ebhart OSB) sowie das Römisch-Germanische Zentralmuseum, Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie (Generaldirektor bis Mai 2018 Falko Daim) beteiligt.
Das Archäologische Museum Frankfurt (www.archaeologisches-museum-frankfurt.de) widmet sich vornehmlich der vor- und frühgeschichtlichen Archäologie des Stadtgebietes Frankfurt am Main. Zudem besitzt es umfangreiche Sammlungen zur Klassischen Antike sowie Vorderasiatischen Archäologie. Seine Sonderausstellungen befassen sich mit aktuellen Themen zur europäischen Archäologie.
Das Römisch-Germanische Zentralmuseum Mainz, Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie (https://web.rgzm.de/) gehört zu den weltweit führenden archäologischen Forschungsinstituten mit besonderer Expertise für Archäometrie und Restaurierung. Es ist an zahlreichen internationalen Projekten beteiligt.
Die umfassenden dokumentarischen und naturwissenschaftlichen Untersuchungen vom 18. April bis 31. November 2016 in den Laboren des Römisch-Germanischen Zentralmuseums wurden ermöglicht durch die überaus großzügige Ausleihe durch das Stift Kremsmünster.
Finanzierung
Den überwiegenden Teil der Finanzierung trug das Archäologische Museum Frankfurt. Am Druck des Bandes beteiligte sich das Stift Kremsmünster mit einem erheblichen Zuschuss.