Verhüllung und Herrlichkeit
Am fünften Fastensonntag - Passionssonntag - wird das Hochaltarbild verhüllt und verstellt den Blick auf die Herrlichkeit.
Mit dem Hochaltarbild der Verklärung des Herrn auf dem Berg Tabor lässt Andreas Wolf (1712) die Herrlichkeit Gottes und das Wohlgefallen des Vaters an seinem geliebten Sohn aufstrahlen. In der Passionszeit wurde früher das Bild mit einem großen Tuch verhüllt. Am Karsamstag wurde beim Gloria unter Glockengeläute dieser Vorhang wieder geöffnet und das Bild herrlich beleuchtet wieder sichtbar.
Seit 1999 wird in der Passionszeit das Hochaltarbild mit einer Leinwand des Künstlers und Graphikers Kurt Steinberg (geb. 1947 OÖ) verhüllt. Die offensichtliche Verstellung soll uns sehend machen. Das Sichtbare verdeckt die Herrlichkeit der Verklärung und macht damit die Passion Christi erfahrbar. Zum Osterfest wird dann wieder voll Freude das Licht Christi in der Osterkerze und im Leuchten des verklärten Heilandes sichtbar.
Christo - logisch!
Ein Impuls über die Verhüllung von Wolfgang Raible aus dem Anzeiger für die Seelsorge 4/2022, S. 30
Personen oder Gegenstände zu verhüllen, muss nicht unbedingt bedeuten, sie zu verbergen. Man kann dadurch auch ganz bewusst auf sie aufmerksam machen: Eine Braut trägt den Schleier, um dann beim Lüften dem Bräutigam ihre wahre Schönheit zu zeigen. Ein Geschenk wird liebevoll eingepackt und verziert, um auf seine Kostbarkeit hinzuweisen. Ein Kunstwerk wird festlich enthüllt, um die Spannung zu erhöhen und Staunen hervorzurufen.
Der Künstler Christo hat mit seinen legendären „Verpackungen“ genau dieses Ziel verfolgt: Zusammen mit seiner Frau Jeanne-Claude verhüllte er z. B. die Pont Neuf in Paris (1985) und den Berliner Reichstag (1995), und im letzten Jahr konnte nach Christos Skizzen sein Neffe posthum den Pariser Triumphbogen unter Tausenden Quadratmetern Stoff so verschwinden lassen, dass die Konturen noch deutlich sichtbar blieben. Christo wollte die Menschen ein neues und schärferes Sehen lehren; ihnen einen Blick für das Besondere, Hintergründige und Wesentliche schenken; das Anschauen aus Gewohnheit unterbrechen. Seine Verhüllungen sollten Neugierde wecken, und er war überzeugt: „Kunst kann vermeintlich tote Körper beleben. Unter unseren Stoffen beginnen sie dann zu atmen.“
Wer Bilder von den verhüllten Kunstwerken gesehen hat, wird sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen und muss zugeben: Was Christo beschreibt, klingt logisch. Das leuchtet ein. Das erleben wir genauso.
Wenn wir das oder Ähnliches doch auch am 5. Fastensonntag, früher „Passionssonntag“ genannt, sagen könnten, wo noch in vielen Kirchen Kreuze und Jesus - Darstellungen mit violetten Tüchern verhüllt werden: Jetzt erkennen wir die Konturen seines Lebens wieder klarer. Jetzt, da sein Bild unseren Augen entzogen ist, prägt es sich eine Spur tiefer in unsere Herzen ein. Jetzt beginnt er, in uns neu zu leben.
→ Wir sehen mit anderen Augen seine wohltuende Art, mit der er auf Menschen zugeht und sie Gottes Nähe spüren lässt.
→ Wir hören aufmerksamer die Geschichten, in denen er uns seinen Traum von einer besseren Welt erzählt.
→ Wir werden heftiger gepackt von seinen aufrüttelnden Worten, durch die er uns aus unseren eingefahrenen Denk- und Handlungsmustern herauslocken will.
→ Wir sind offener für seine Anregungen, wie unser Leben und Zusammenleben mit anderen gelingen könnte.
→ Wir erleben intensiver, wie er Menschen aus Vorurteilen und Verurteilungen anderer befreit und sie wieder aufatmen lässt.
Und wenn wir dann in der Karfreitagsliturgie, in der mit dem Ruf „Seht das Holz des Kreuzes“ langsam ein Kreuz enthüllt wird, sagen könnten: Jetzt geht uns neu auf, wie konsequent er seinen Weg gegangen ist und wie er seine Liebe zu uns bis zum Schluss durchgehalten hat. Jetzt wird uns wieder bewusst, wie sehr er sich mit den Leidenden und Geschundenen dieser Welt solidarisiert hat. Jetzt können wir stärker empfinden, dass er auch uns in unseren Nöten und Ängsten nahe ist.
Was der Künstler Christo uns an großen Monumenten so eindrucksvoll demonstriert, praktiziert die Kirche im Kleinen schon seit vielen hundert Jahren:
Das „Fasten der Augen“ kann den Blick schärfen – für die „Passion“ Jesu, sein Leiden und seine Leidenschaft für uns, und für die Menschen, die heute ihr Kreuz zu tragen haben.